An der Spitze wachsen

Der Weg an die Unternehmensspitze erfordert starkes Durchsetzungsvermögen – aber auch eine Persönlichkeit, die anderen den Raum gibt, sich zu entfalten und das jeweils Beste zu geben. Das klingt nach einem Widerspruch und ist in der Tat das große Paradoxon von Führung im 21. Jahrhundert. Um die Balance aus Richtung, Klarheit, Ergebnisorientierung auf der einen und Exploration, Delegation und Inklusion auf der anderen Seite zu finden, braucht es meist eine tiefgreifende und kontinuierliche Weiterentwicklung.

Hanns Goeldel

Managing Partner, Egon Zehnder Germany

Moritz von Campenhausen

Berater bei Egon Zehnder

Die Übernahme einer Vorstands- oder CEO-Rolle ist für viele Führungspersönlichkeiten die Krönung ihrer Karriere. Doch wer glaubt, dass Topmanager:innen damit auch den Höhepunkt ihrer eigenen Weiterentwicklung erreicht haben, irrt. Denn mit der neuen Position beginnt auch ein neues, besonderes Kapitel für sie. Alfred Herrhausen, ehemaliger Vorstandssprecher der Deutschen Bank, beschreibt den Schritt an die Spitze folgendermaßen:

„Es ist nicht einfach eine Fortsetzung der bisherigen Tätigkeit auf höherer Ebene, was hier erfolgt, sondern etwas spezifisch Neues. Dabei ändern sich nicht die Fertigkeiten, sondern die Verantwortungen, nicht die Problemstrukturen, sondern deren Wertigkeit, oftmals nicht der Kreis der Mitarbeiter:innen, immer aber der soziale Bezug zu ihnen.“

Heute kommt hinzu, dass wir multiple Krisen und Herausforderungen erleben – von geopolitischen Brandherden auf der einen Seite bis zu bahnbrechenden Möglichkeiten durch moderne KI auf der anderen. Vielleicht ist es dieser Realität geschuldet, dass wir in den letzten Jahren einen Trend beobachten, der früher so nicht formuliert wurde: dass sich auch CEOs und Topführungspersönlichkeiten laufend weiterentwickeln müssen, um Veränderung glaubhaft anführen zu können. Ein reines Verlassen auf einmal erworbene Fähigkeiten ist nicht genug. In unserer Studie „It starts with the CEO“​ erkennen über 80 Prozent der befragten knapp 1.000 globalen CEOs an, dass sie sich selbst ändern müssen, um ihre Organisationen transformieren zu können.

Wir wissen von den erfolgreichsten Führungspersönlichkeiten, dass sie niemals ausgelernt haben. Vielmehr besteht Führungsarbeit – in unterschiedlichen Rollen – immer aus einem Wechselspiel zwischen eigener Aspiration, der Identität als Führungspersönlichkeit und den Umständen und Menschen um sie herum, die dies entweder ermöglichen oder erschweren. Topmanager:innen lassen sich immer wieder aufs Neue darauf ein, sich selbst und ihre Umwelt anzunehmen und herauszufordern – und schlagen so neue Wege ein. Aber wie geht Weiterentwicklung an der Spitze? Zumal wenn Entwicklung auch darin bestehen kann, persönlich Neues zu erschließen und sicheres Territorium zu verlassen. An der Spitze, wo jede:r unter besonderer Beobachtung steht, ist das eine doppelte Herausforderung, die persönlichen Mut erfordert. Ohne Frage gibt es viele Schulen und Ansätze und ohne Zweifel muss jede Führungspersönlichkeit eine kluge Auswahl des richtigen Ansatzes treffen. Dafür gibt es kein Playbook, aber Leitsterne.

Einen geschützten Raum schaffen

Ein erster Schritt besteht darin, einen geschützten Raum zu schaffen, in dem eine Führungspersönlichkeit sich öffnen kann und Menschen an ihrer Seite hat, die sie weiterbringen. Zur ehrlichen Selbstreflexion gehört Mut. Wo stoße ich mit meinem Führungsstil an Grenzen? Was gelingt, was nicht? Wo falle ich in Verhaltensmuster, die mir und meiner Arbeit an der Spitze schaden? Die Auseinandersetzung mit sich selbst ist entscheidend und hat viele Facetten. Auch hier gibt es keine To-do-Liste, jedoch erweist es sich immer wieder als sinnvoll, sich dafür Zeit zu nehmen und sich dann kontinuierlich – vor allem im alltäglichen Businesskontext – begleiten zu lassen. Und zwar mit dem Ziel, eine stärkere Selbstwahrnehmung zu erlangen, die oft der entscheidende Schritt ist, um von einer höheren Warte aus zu agieren.

 

Die eigene Identität überprüfen

Topmanager:innen müssen nicht selten eine Rollenidentität entwickeln, die sich fundamental von der unterscheidet, die sie in den Jahren vor ihrem größten Karrieresprung innegehabt haben. Dabei ist Identität vielschichtig und über einen langen Zeitraum entstanden. Oft umfasst sie liebgewonnene Erfolgsrezepte, die hinter sich zu lassen eine Herausforderung für die meisten Menschen ist. Herminia Ibarra stellt in diesem Kontext einfach klingende, aber fundamentale Fragen: Was ist Ihre Geschichte? Was ist der Charakter, den Sie in Ihrer neuen Rolle spielen werden? Welche persönlichen Geschichten sind es, die Sie in der Zukunft ausmachen? Diese Fragen schauen nach vorne, aber ohne einen Blick zurück werden sie kaum umfassend zu beantworten sein. Erica Ariel Fox sagte uns einmal:

„Jeder von uns hat ein inneres Gerüst, eine innere Struktur, eine persönliche Geschichte, ja, einen Mythos, der etwas über uns selbst sagt. Wenn wir einflussreiche Rollen ausüben, entwickelt sich daraus ein persönliches Führungsparadigma. Wer sich neu erfindet, ersetzt alte Mythen, die ihren Zweck erfüllt haben, durch eine neue, umfassendere und ganzheitliche Geschichte von sich selbst. Und das stärkt das innere Gerüst, das es braucht, um in einer veränderten Umwelt neue Wege zu gehen.“

 

Feedback einfordern

Exzellente Führungspersönlichkeiten zeichnen sich dadurch aus, dass sie regelmäßig Feedback einholen. Mit Neugierde auf das diverse Feedback zu schauen, kann auch zu einer permanenten Quelle für die eigene Weiterentwicklung werden, wenn man bereit ist, sich im Kern der eigenen Identität herausfordern zu lassen. Viele Führungspersönlichkeiten scheuen diese ernsthafte Frage, weil sie auch eigene Glaubenssätze und die darauf aufbauende Identität betreffen könnten.

Mit Blick auf die Spitze ist eine ständige Weiterentwicklung heute aber unverzichtbar: Selbstreflexion ermöglicht eine andere, oft tiefere Beziehungsorientierung, die notwendig ist, um in einem hochkomplexen Umfeld zusammen mit anderen erfolgreich zu sein. Diese Fähigkeit, sich laufend zu hinterfragen, ohne sich selbst oder die geführten Mitarbeiter:innen zu irritieren, weil ihnen vermeintlich die Klarheit und Orientierung fehlt, ist gerade für CEOs essenziell. Nur wer sich selbst transformiert, kann seine Organisation erfolgreich verändern.